Perlug

für einen sprechenden Geiger
UA 10.03.2024 artloft, Berlin

Perlug ist eine tragikomische Komposition. Sie basiert auf einem italienischen Kindergedicht von Roberto Piumini, dessen Grundform nur vier Zeilen umfasst:

Pierluigino affamato
proprio tutto si è mangiato
solo il nome gli restò
e la O lui si mangiò.

Hungriger Pierluigino
aß alles auf
nur sein Name blieb
und das O, das aß er.

In der Folge wird das Gedicht wiederholt, jedoch ohne das „O“, das Pierluigino bereits aufgegessen hat. Die nächste Strophe lautet also:

Pierluigin affamat
prpri tutt si è mangiat
sl il nme gli rest
e la T lui si mangí.
(hier isst er das „T“ auf)

Dieser Vorgang wiederholt sich so oft (insgesamt 14-mal), bis der Text in der letzten Strophe folgende Gestalt angenomme hat:

s
s s
S s.

Aus kompositorischer Perspektive gab es für mich eine Vielzahl von Anknüpfungspunkten. Zunächst ist dort der komisch-absurde, verspielte Charakter des Gedichts, der schon in seiner ersten Strophe anklingt und sich im weiteren Verlauf immer weiter offenbart und verstärkt. Zunächst ist der Text noch klar verständlich, auch wenn er bereits eine leicht artifizielle Verfremdung aufweist. Ab einem bestimmten Punkt geht die Textverständlichkeit verloren und es entsteht der Eindruck, wir hätten es mit einer erfundenen oder uns gänzlich unbekannten Sprache zu tun. Gegen Ende bleiben nur einzelne Laute übrig, die gar keinen Anklang von Sprache mehr aufweisen.
Dieser Entwicklung bin ich mit der Musik ein gutes Stück weit gefolgt, auch wenn ich die Reihenfolge der Strophen stark verändert habe und so die Linearität und den Determinismus des Textes aufgebrochen habe. Dadurch war es mir möglich, eine musikalisch interessantere und weniger vorhersagbare Dramaturgie zu verfolgen, denn ich bin schnell zu der Überzeugung gekommen, dass das einfache Übersetzen der Textentwicklung in eine musikalische Entwicklung wenig aussagekräftig gewesen wäre.
Eine sehr folgenreiche Entscheidung war es, den Text vom Geiger selbst sprechen zu lassen, der während des Spielens also eine Doppelaufgabe als Instrumentalist und als Sprecher erhält, was auf mehreren Ebenen – sowohl technisch als auch interpretatorisch – eine große Herausforderung darstellt. Diese Idee ist von Anfang an durch Benedikt Bindewald inspiriert worden, der neben seiner hauptsächlichen Tätigkeit als Musiker und Komponist immer wieder auch als Schauspieler in Erscheinung tritt und mit dem ich während des Kompositionsprozesses in einem sehr engen Austausch stand – pandemiebedingt meist auf Distanz.
Der Geigenpart ist eng mit der Sprache verwoben. So dienen die Silben und Laute als rhythmische Auslöser oder Endpunkte von Instrumentalgesten und deren Klangfarben sind häufig von der Farbe der Phoneme oder der Bewegung des Sprachduktus beeinflusst. In den Teilen, in denen die Sprache bereits zu isolierten Konsonantklängen zerfallen ist, ist auch der Instrumentalpart äußerst reduziert und bewegt sich im schattenhaft-geräuschhaften. In den Strophen, in denen der Text vollverständlich rezitiert wird, hinterlegt in die Violine mit einem atmosphärischen Klangteppich, der den Textvortrag nur gelegentlich interpunktiert.
Ein dramaturgisch wichtiger Moment sind die von mir sogenannten „Stotter-Variationen“ (dies sind die Strophen 8 bis 10, allerdings in umgekehrter Reihenfolge). Hier befindet sich die Dekonstruktion des Textes an einem Punkt, an dem die bekannten Sprachlaute in rein Klangliches umzuschlagen drohen und es scheint, als wäre eine klare Artikulation nicht mehr möglich – als bliebe dem Sprecher die Sprache im Hals stecken. Es offenbart sich in meiner Interpretation hier das Tragische hinter dem Spielerisch-Absurden: Der Hunger, das Verlangen und Bedürfnis zu Verschlingen oder gefüttert zu werden, ist so groß geworden, dass er die eigene Fähigkeit zur Selbstäußerung und damit die Grundlage der eigenen Identität zu verschlingen und zu vernichten droht. Die Violine bäumt sich in einem verzweifelten Kampf auf und stemmt sich der Nihilierung entgegen – furios den Interpreten an die Grenze des physischen Möglichen treibend.
Perlug kann als eine Solo-Musiktheaterminiatur betrachtet werden, es kann aber auch als reines Konzertstück verstanden werden. Diese Doppeldeutigkeit ist intendiert und lässt Freiraum für viele verschiedene Interpretationen des Stücks.

 

 

Perlug
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Dauer:
14 min
Notenausgabe:
Universal Edition