Respiro
für Bassklarinette solo
Seit Beginn meiner Ausbildung als Holzbläser (ich lernte zunächst Saxofon, danach Klarinette und Bassklarinette) besitzt der menschliche Atem für mich naturgemäß einen hohen Stellenwert. Als Grundlage und Motor der Klangerzeugung ist er für das Blasinstrument unabdingbare Voraussetzung und integraler Bestandteil des Musizierens, wenngleich er in der traditionellen Musikzierpraxis zur Unhörbarkeit und damit de facto zur musikalischen Gegenstandslosigkeit verdammt ist: Atempausen sollen möglichst kurz und unmerklich gestaltet werden, dass Einatmen soll keinesfalls hörbar sein und genauso soll jedes „Nebengeräusch“, das die Luft verursachen könnte, eliminiert werden.
Von jeher faszinierte mich der große Reichtum an subtilsten klanglichen Abschattierungen, den die Luft im Instrument in sich birgt, wenn wir ihr den Raum dazu geben. Respiro (italienisch = Atem) folgt eben dieser Faszination und thematisiert den Atem als Grundlage des Instrumentalspiels – ebenso wie unserer Existenz – und sein Übergang zum musikalischen Ton.
Der Kompositionsprozess für dieses Stück verlief gänzlich anders, als es meiner üblichen Arbeitsweise entspricht. Normalerweise entstehen meine Kompositionen – nach einer ersten Phase der Forschung und des Suchens nach klanglichen und spieltechnischen Möglichkeiten am Instrument, welche häufig in engem Austausch mit den Interpreten abläuft – ausschließlich am Schreibtisch durch kalkulierendes Planen der Form und Dramaturgie und minutiöses Ausgestalten der musikalischen Struktur.
Das Schreiben eines Solostücks für Bassklarinette stellte mich vor eine ungewohnte Situation, da ich bisher für das Instrument (und mich selbst als Interpreten) nur für Ensemblekontexte komponiert hatte, und ich Solostücke bei Konzerten bisher stets improvisiert hatte, wie es meinem Background als Jazz- und Improvisationsmusiker entspricht. Also wählte ich für Respiro einen hybriden Ansatz, indem ich verschiedenes musikalisches Material definierte und damit kurze Improvisationen aufnahm. Aus diesen Improvisationen entstanden weitere Ideen und Verläufe, die ich wieder improvisatorisch ausgestaltete.
So entfaltete sich der gesamte Kompositionsprozess als ein Wechselspiel zwischen planender Notation und spontaner Umformung und Weiterentwicklung bis zu dem Punkt, an dem die Partitur fast vollständig fertig war und ich in einem letzten Korrekturlauf das ganze Stück aufnahm und dabei letzte improvisatorische Ergänzungen einfügte. Insofern lässt sich bei diesem Werk die Frage, ob der Klang oder Schrift zuerst stand, nicht mehr auflösen, sondern ist dialektisch darin aufgehoben.
Urzelle des Stücks stellt die einfache Ein- und Ausatembewegung ohne Instrument dar, aus der sich das langsame Grundtempo und die meditative Atmosphäre des Stücks entwickelt. Die Atembewegung wird nach und nach „vermusikalisiert“, wobei für die musikalische Struktur die Unterscheidung von drei Atemtypen wichtig ist: Erstens das Ein- und Ausatmen, welches ich zyklisches Atmen genannt habe und welches in verschiedener Weise rhythmisiert und gefärbt wird; zweitens die musikalische Atmung, wie sie beim „normalen“ Klarinettenspiel auftritt mit ihrer stark verkürzten, unhörbaren Einatmung und der langen, forcierten Ausatmung; und drittens die Zirkularatmung, die Ein- und Ausatmung gleichzeitig ablaufen lässt und im dramaturgischen Kulminationspunkt des Stückes stattfindet.
Das Stück bewegt sich zu einem großen Teil im piano-pianissimo-Bereich, da die Luftklänge naturgemäß leise sind. Wo sich Übergänge in konkrete Töne ergeben, bleiben diese ebenfalls auf einer niedrigen Dynamikstufe. Selten ereignen sich Töne im traditionellen Sinne, die meisten definitiven Tonhöhen treten in Form von Spaltklängen auf, die aufgrund ihrer komplexen Obertonstruktur eine größere Nähe zur Geräuschhaftigkeit der Luftklänge aufweisen und von sich aus „Nebenluft“ produzieren.
Der Übergang zwischen Luftgeräusch und Tonhöhe beginnt allerdings schon bevor es zur Schwingung des Rohrblattes und damit zur eigentlich Tonproduktion kommt. Zunächst gibt es eine Vielzahl von Abschattierungen der Luft, ähnlich wie bei einem Schlagzeug verschiedene Becken abschattiert werden können, ohne dass eine exakte Tonhöhe angegeben werden könnte. Diese klangliche Differenzierung erfolgt zum einen durch den Instrumententeil, auf den die Luft geblasen wird: Mit weitestgehend normalem Ansatz ins Instrument, von einiger Distanz aufs Blatt, auf das vom Instrument abgenommene Mundstück oder ganz ohne Instrument als Ein- oder Ausatmen. Zum anderen ist die Formung der Mundhöhle entscheidend, welche in der Partitur unter jedem Luftgeräusch durch einen Laut, dementsprechend die Mundhöhle geformt werden soll, angegeben ist.
Den deutlichsten Übergang in die Domäne der konkreten Tonhöhen allerdings resultiert aus einer Technik, die ich vor einigen Jahren im improvisatorischen Zusammenhang entwickelt habe. Bei dieser bleiben die oberen Schneidezähne in ihrer normalen Position auf dem Mundstück, der Unterkiefer öffnet sich dagegen, löst die Lippe vom Blatt und lässt die Luft mit einer Zungenstellung ähnlich der Silbe [chi] auf das Blatt treffen. Daraus entsteht ein kräftiges Luftgeräusch, das einen schattenhaft hörbaren Tonhöhenanteil enthält, welcher in den unteren zwei Oktaven des Instruments für quasi-expressive melodische Phrasen Verwendung findet.
Respiro_Vorschau